MAGAZIN DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG
SLOW MOTION
MIT DER FILMKAMERA IM AUTISTENHAUS
1.6.2011 | Nana A. T. Rebhan
Wolfram Seeger realisiert seit knapp dreißig Jahren Dokumentarfilme im Auftrag der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten WDR, ARD und 3sat. Psychiatrie, Therapie und Behinderung gehören zu seinen Themen. Sein Film „Autisten“ wird zusammen mit seinen Filmen „Lichtblicke“ und „Der seltsame Sohn“ im November auf 3sat gesendet werden. Für seinen Film „Autisten“ verzichtet er auf jeglichen erklärenden Off-Kommentar. So können die Zuschauer ganz in die Welt der Autisten eintauchen. Dies bringt einen zwar bisweilen an seine Grenzen, zeigt aber gerade dadurch ein realistisches Bild dieser immer noch unerklärlichen Krankheit. Nana A.T. Rebhan hat sich mit dem Autor, Regisseur, Kameramann und Cutter in Personalunion Wolfram Seeger unterhalten.
Nana A.T. Rebhan: Wie entstand die Idee zu Ihrem Film über Autisten?
Wolfram Seeger: Von der Einrichtung „Haus Bucken“ habe ich durch einen Zeitungsartikel erfahren. Ich wusste sofort: Hier ist ein Thema für mich. Ich hatte schon viel gelesen und gehört über Autisten, aber hier in Velbert in der Nähe von Wuppertal fand sich plötzlich ein praktischer Ansatz zu einem der Filme, wie ich sie liebe. Ein eng umschriebener Ort und darin die Menschen, auf die man sich einlassen kann.
Wie lange haben Sie in Haus Bucken gedreht und wie groß war Ihr Team?
Im Herbst 2007 fand unser erster Dreh statt, die Arbeit zog sich über ein Jahr in Etappen hin. Vorher hatte ich viel Zeit ohne Kamera im Haus Bucken verbracht, erst allein, später zusammen mit Filipp Forberg, dem Tonmann. Vom Aufstehen bis zum Zubettgehen haben wir am Alltag teilgenommen, zusammen gegessen und – ganz wichtig – Cappuccino getrunken, Spaziergänge und Ausflüge mitgemacht. Wir gehörten irgendwann einfach dazu, wir hatten alle Schlüssel und konnten uns im Haus frei bewegen. Probleme gab es auch während des Drehs überhaupt nicht – vorausgesetzt man nahm Rücksicht auf die jeweiligen Eigenarten.
Was für Eigenarten haben die Bewohner/innen?
Jonas darf man mit Brille nicht zu nahe kommen, da kann er plötzlich schnell wie eine Schlange zustoßen, ehe man sich’s versieht, hat er die Brille in der Hand. Übrig bleibt ein klägliches Knäuel. Hannes reißt mit einer einzigen Bewegung blitzschnell aus jedem Pullover, Hemd oder Bluse in seiner Nähe das Wäscheetikett raus, das er dann tagelang glücklich in den Fingern jongliert. Lars entspricht am ehesten dem Bild, das Außenstehende von einem Autisten haben. Er bewegt sich auf vorgezeichneten unsichtbaren Bahnen, die unbedingt freizuhalten sind, Türschwellen übersteigt er wie ein Kletterer, oft verharrt er wie festgefroren in absurden Posen. Er hat seine eigene Zeiteinteilung, von der er nicht abzubringen ist – Schuhe anziehen dauert mindestens 20 Minuten, die muss man vorher einplanen.
Besonders charmant wirkt Christian in Ihrem Film …
Ja, Christian ist der Charmeur. Er geht gerne auf Fremde zu, ist meistens gutgelaunt und umflirtet mit Vorliebe alles Weibliche, Blonde, Schlanke. Dabei muss man sich immer vor Augen halten, dass Christian noch als Jugendlicher kein einziges Wort sprechen konnte. Christian begrüßte mich immer freudestrahlend und mit Umarmung, war er aber schlecht gelaunt, konnte man ihm das schon von weitem ansehen. Dann war irgendetwas in seiner immer gleichen Planung aus dem Tritt geraten – zum Beispiel wenn der heißgeliebte Transporter von Haus Bucken nicht auf dem dafür vorgesehenen Parkplatz stand.
Waren denn alle Anwohner und deren Angehörige einverstanden mit dem Dreh?
Die Angehörigen der Bewohner waren von Anfang an mit den Dreharbeiten einverstanden. Ob die Bewohner selbst einverstanden waren – wer kann das wirklich sagen? Waren die Kinder im Wachkoma einverstanden? Die alten Frauen im Altenheim? Oder die Taubblinden? Wissen die überhaupt, was Fernsehen ist? Andersherum gefragt: Warum machen die anderen mit? Weil sie mir einen Gefallen tun wollen, weil ich so schöne blauen Augen habe? Das sind die Fragen, mit denen sich jeder auseinander setzt, der sich in seinen Filmen mit den unterschiedlichsten Menschen beschäftigt und dabei authentisch bleiben will. Die Protagonisten legen einen Teil ihres Lebens in unsere Hände und hoffen, dass wir etwas Vernünftiges daraus machen und sie sich wieder finden können. Die größte Rolle im Prozess der Entstehung spielt die zwischenmenschliche Beziehung und natürlich die Intention des fertigen Films.
Haben die Beteiligten den Film gesehen? Wie haben sie darauf reagiert?
In der Endphase der Montage habe ich den Mitarbeitern und den Angehörigen den Film vorgeführt, und wer von den Bewohnern Lust hatte, kam dazu. Manche sind bald gegangen, weil sie nicht stillsitzen können, andere wie Christian haben gespannt bis zum Schluss zugeschaut und waren ganz aus dem Häuschen, wenn sie im Bild zu sehen waren. Gemeinsam mit den Mitarbeitern und den Angehörigen bin ich mir sicher, den Willen der Betroffenen nicht missachtet zu haben und ihnen nicht geschadet zu haben. Ich hoffe darüber hinaus, dass ihr Mitwirken nicht nur bei mir, sondern auch bei den Zuschauern ein klitzekleines bisschen den Blickwinkel auf Behinderte im Allgemeinen und Autisten im Speziellen verändern wird.
Haben Sie nach einem Konzept gedreht oder war das nicht möglich?
Meine Filme entstehen erst am Schnittplatz. Natürlich mache ich mir Pläne und sammle Eindrücke. Aber, wie die Erfahrung zeigt, alles kommt anders, als man denkt, und zwar bei jedem Film. Pläne sind hilfreich, aber am Ende bleibt von ihnen nicht viel übrig. Das zeigte sich gerade bei den Autisten. Keine einzige Einstellung war planbar, jeder Ablauf war spontan und improvisiert, nichts hätte wiederholt werden können. Entweder ich hatte es im Kasten oder es war perdu. Auch Wortwechsel ließen sich nicht verabreden, entscheidend waren die Stimmung und die Bereitschaft der Bewohner. Jeder Film oder besser gesagt jedes Thema hat seine eigenen Bewegungsabläufe, seine eigene Geschwindigkeit, an die der Kameramann sich im Laufe der Zeit anpasst. Im Haus Bucken hatte jeder der Bewohner seine eigene Geschwindigkeit. Es war wie immer, am Ende der Dreharbeiten hatte wir das Gefühl, jetzt wäre genau der richtige Zeitpunkt mit dem Dreh anzufangen.
Wie lange haben Sie geschnitten?
Der Schnitt dauerte neun Monate. Das heißt nicht, dass ich neun Monate zehn Stunden am Tag gearbeitet habe. Das ist mir das Wichtigste, dass ich mir genügend Zeit nehmen kann und keinen Druck im Nacken habe – zumindest so gut wie keinen. Ich finde es unglaublich schwer, wenn man auf alles Erklärende verzichtet, eine Dramaturgie für einen langen Film zu entwickeln und dabei die Fäden, die man aufgenommen hat, nicht aus den Augen zu verlieren. Ich komme mir dann vor wie ein Schachspieler, der alle Varianten der nächsten Züge vorhersehen muss.
Womit wird sich Ihr nächster Film beschäftigen?
Zurzeit bereite ich einen Film vor, der sich im weitesten Sinne mit hirnorganischen Ausfällen beschäftigt, die auftreten nach einem Schädel-Hirn-Trauma, einer Läsion, einer Hirnblutung oder einer Infektion zum Beispiel. Mir geht es dabei weniger um die medizinische Diagnose oder die Therapie, mehr interessiert mich, wie das Bewusstsein, die eigene Wahrnehmung, die Spiegelung durch die Umwelt sich schlagartig verändern beziehungsweise verändert werden: Wer bin ich, was bleibt von mir übrig, wenn zum Beispiel mein Erinnerungsvermögen mich im Stich lässt, wenn ich die einfachsten Dinge neu lernen muss?
KOMMENTARE
Autismus Haus Bucken
Autismus Haus Bucken
„Ein Film ohne erklärenden Kommentar“. – Bei mir kam der Film sehr nachdrücklich und berührend an. Allerdings habe ich mich gefragt, ob das so gut war, ohne weitere Erklärung? Wie kommt der Film in der Öffentlichkeit an und wird damit Verständnis für Menschen mit Autismus verbessert? Jedenfalls hätte ich mir zumindest eine unmittelbare Nachbesprechung mit Eltern, Betreuern, Betroffenen und Ärzten sehr gewünscht. Ich fürchte sehr, so wie das Sendekonzept aussah, unterstützt es die Neigung in der Bevölkerung, Autismus sehr vereinfachend als „Verrücktheit“ abzutun. Das Spektrum des Autismus ist ja sehr viel breiter, auch komplexer, als die Sendung (ohne Erklärung)zeigen kann.
Hans Steinmassl |13. September 2012 11:29
Ich habe den Film bereits zwei mal gesehen. Nach dem ersten mal war ich ebenfalls enttäuscht, dass kein Kommentar nach der Sendung folgte. Der Film, der mich sehr berührt hat, hat jedoch in mir „nachgearbeitet“ und viele der Szenen gingen mir auch Wochen später noch im Kopf herum – jetzt denke ich: hätte es einen Kommentar gegeben und wären meine offenen fragen erklärt worden, hätten sich die wunderbaren Persönlichkeiten bei mir nicht so nachhaltig in mein Gedächtnis eingebrannt. Ich fühle jetzt eine Verbundenheit zu diesen Menschen und ein Verständnis für sie. Fazit: es muss nicht immer alles erklärt und analysiert werden. Manches versteht sich auch von selbst.
Christiana Herbst |1. Dezember 2012 10:11