Dokumentarfilm von Wolfram Seeger
Deutschland 2010
Laut Statistik des Bundeskriminalamts ist jeder achte Tatverdächtige zwischen 14 und 18 Jahre alt. Das sind 400.000 Jugendliche. Wie aber soll man umgehen mit jungen Menschen unter Vierzehn, die emotional verarmt sind und ihre Aggressionen nicht kontrollieren können, die die Welt als grundsätzlich feindlich gesinnt erleben, keine Beziehungen eingehen können, die andere als Bedrohung empfinden und daher bekämpfen müssen? Allein in Nordrhein-Westfalen wurden im Jahr 2009 10 000 Kinder und Jugendliche aus der Obhut ihrer Eltern genommen und unter Schutz gestellt – in der Regel auf Betreiben der Jugendämter oder anderer Behörden, manchmal auch auf Wunsch der Eltern oder sogar der Kinder selbst
Stephansheide in Rösrath bei Köln ist eine solche Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe. In insgesamt acht Wohngruppen sind dort jeweils fünf Jugendliche untergebracht., mit deren Erziehung und Ausbildung Familien, Schulen, Jugendämter und Familiengerichte überfordert waren und letztlich gescheitert sind. Ohne Schulabschluss und Berufsausbildung drohen den Jugendlichen lebenslang Sozialhilfe, Drogenabhängigkeit und Kriminalität. Es ist schwer, einem von Lethargie, Frust oder Schlägen bestimmten Alltag zu entrinnen und in andere Sphären der Gesellschaft aufzusteigen. Stephansheide ist dabei für die meisten seiner Bewohner die allerletzte Chance.
Ein Jahr lang hat der Dokumentarfilmer Wolfram Seeger den bis ins Kleinste geplanten Tagesablauf und das strenge Regelsystem mit der Kamera begleitet. Den Jugendlichen, die schon seit Jahren die Schule schwänzen und sich kriminell verhalten, werden hier die Grundlagen bürgerlichen Sozialverhaltens vermittelt. Das gilt für das Aufstehen und das Frühstück, das Miteinander beim Essen, die Küchenarbeit und die Schule. Der Film beobachtet die Konflikte der Jugendlichen untereinander und wie die Betreuer damit umgehen. Und er lässt die Jugendlichen selbst zu Wort kommen, mit Selbstkritik und Selbstzweifeln, Hoffnungen und Träumen.
Erstsendung; Länge: 88’ 01“ Minuten; 16:9; Stereo; Redaktion: Jutta Krug/Reinhard Wulf
Genau hingesehen und zugehört
„… Über ein Jahr lang hat der mehrfach preisgekrönte Dokumentarfilmer Bewohner eines Heims der Kinder- und Jugendhilfe in der Nähe von Köln in ihrem Alltag begleitet. Thematisch führt auch dieser 90-minütige Film die lange Reihe von Produktionen fort, in denen sich Seeger immer wieder mit Menschen beschäftigt hat, die aus den unterschiedlichsten Gründen eher am Rande der Gesellschaft stehen. So hat er sich unter anderem mit Kindern im Wachkoma, Mördern, Verbrechensopfern und Autisten beschäftigt, hat sich in Altenheimen und in sozialen Brennpunkten umgesehen. …
Dabei nimmt sich der Kontrast zwischen den häufig von Neckereien, aber auch von unverhohlener Aggressivität geprägten Gemeinschaftsszenen und den Einzelgesprächen, in denen die Bewohner ruhig und teils erstaunlich reflektiert von sich erzählen, verblüffend aus. …
Wie lange Wolfram Seeger gebraucht hat, um das Vertrauen dieser vier Jugendlichen zu gewinnen, lässt sich nur erahnen. Und natürlich posen sie zwischendurch auch für die Kamera oder vollführen für sie Scheinringkämpfe. Doch letztlich besticht der Film vor allem durch die Haltung, seinen Protagonisten zuzuhören und sie durchweg ernst zu nehmen – was diesen Jugendlichen, von denen die Medien sonst nur zu berichten wissen, wenn mal wieder irgendwo minderjährige Schläger auffällig geworden sind, eher selten passiert. …“
Funkkorrespondenz
Eine letzte Chance für Nico
“ ‚Ich lass‘ dich töten, du Hurensohn!‘ Diesen alles andere als feinen Satz sagt der erst 13-jährige Nico, er schäumt vor Wut. Zur Not will er seinen Kontrahenten, den 3 Jahre älteren Robin, mit einem Dartpfeil erstechen. Wenige Minuten später sitzt er vor seinem Erzieher und trennt sich widerstrebend von seinem Geschoss. …
Stephansheide in Rösrath bei Köln ist für Jungs wie Nico und Robin die letzte Chance. Familien, Schulen, Jugendämter und Gerichte sind gescheitert. …
Wolfram Seeger lässt die Problem-Jungs selbst zu Wort kommen. Dabei offenbaren sie teilweise erstaunliche Einsichten, zeigen sich auch mal sensibel und verletzlich. ‚Meinen kleinen Bruder erziehe ich. Ich möchte nicht, dass der mal so ist wie ich‘, sagt Nico, der seine Lage überraschend realistisch sieht.“
Freie Presse
Intime Einblicke
„Pseudo-Dokumentationen über schwer erziehbare Jugendliche … bietet das Privatfernsehen zur Genüge, nahezu ohne Mehrwert für den Zuschauer. Dieser Film dagegen war anders. Keine Effekthascherei, keine konstruierten Eskalationen. …
Der Film beschönigte nichts. Einen Kommentar brauchte er nicht. Die Szenen und die unaufgeregte Kameraführung sprachen für sich. Neben den Jugendlichen kamen ihre Erzieher und ihre Mütter zu Wort. Gewissenskonflikte, gepaart mit Hilflosigkeit, Sprachlosigkeit und zurückgehaltenen Tränen – intime Einblicke, die zum Nachdenken anregen. Eine Doku, wie man sie sich öfter wünscht.“
Offenbach Post
Heimisch?
„Es ist wohl die Horrorvision aller Eltern: Man hat sein Kind nicht mehr im Griff und muss es in ein Heim geben. Regisseur Wolfram Seeger hat die schwer erziehbaren Robin, Marco, Julien und Nico in einer solchen Anstalt begleitet – und zeigt eine konfliktreiche Welt, in der es rund um die Uhr knirscht und menschelt. Unaufdringlich fing die Kamera den Alltag in den Fluren und Zimmern ein, zeigte brodelnde Konfliktherde, Pädagogen mit Nerven aus Drahtseil und gewaltbereite Heranwachsende, die so gern erwachsen wären und mit tieftraurigen Augen über ihre Fehler nachdenken. …
Die Doku erlaubte sensible Einblicke in ein Paralleluniversum unserer Gesellschaft, machte trotz einiger derber Szenen und herber Enttäuschungen leise Hoffnung – und zeigte, dass es Kindern in der Welt da draußen deutlich besser geht.“
Südkurier